Das Selbstmitleid der großen Mädchen
Wie sich alljährlich glücklose Frauen in der Kampagne #regrettingmotherhood selbst beweinen.
Kinder sind anstrengend, haben Sie das gewusst? Gerade werden wieder die „Ich bereue es, Mutter geworden zu sein“-Festspiele in Deutschland eingeläutet. Man kann die Uhr danach stellen, dass uns das Thema mindestens einmal jährlich im deutschen Feuilleton ereilt, es stellt sich nur die Frage, welches Medium es in diesem Jahr sein wird, das die seit dem Jahr 2015 durch das Netz wabernde #regrettingmotherhood-Kampagne wiederkäut. Damals schaffte es das große Selbstmitleid wehleidiger Mütter wider Willen sogar bis in die Tagesschau. Gerne wird das Ganze auch als „Tabu“-Thema verkauft, weil es ja angeblich so schwierig sein soll, über den Mutterfrust zu sprechen – so, als ob es inzwischen nicht Tausende an Mama-Blogs weltweit gebe, die doch recht realistisch aus dem Erfahrungsbereich von Müttern berichten. Und so, als sei das Schlechtreden der Mutterschaft nicht das Grundrauschen jeder feministischen Debatte der vergangenen 100 Jahre.
Diesmal ist es also die Tageszeitung WELT, die mit der Titelzeile „Ich liebe meine Kinder. Aber ich würde mich kein zweites Mal für sie entscheiden“ ins Rennen geht. Wir hören am Beispiel einer Wiener Zweifachmama von der Trauer, ihr altes, kinderfreies Leben nicht mehr zu besitzen. Außerdem habe sie immer gedacht, das Muttersein werde sie glücklich machen, und jetzt ist das gar nicht so, denn sie will übers Wochenende auch mal alleine wegfahren, ausschlafen, im Restaurant in Ruhe essen und nicht ständig verfügbar sein.
Ich schrieb bereits 2015 das erste Mal in meiner Kolumne über das Thema und habe den Text wieder herausgesucht, denn er kann bis heute genauso stehen bleiben. Die wehleidige Kampagne #regrettingmotherhood ist Selbstmitleid in Perfektion. Es ist aber anscheinend bis heute unglaublich attraktiv, die eigene Unzufriedenheit lieber im Kinderwagen abzuladen, anstatt erwachsen zu werden.
Im nächsten Leben ohne Kinder
Er hat drei Kinder und ich vier und so kamen der Kollege und ich vor ein paar Jahren ins Gespräch über die Elternschaft an sich. Er hatte einen Traumjob, der ihm großen Spaß machte, finanziell bis ans Lebensende ausgesorgt und eine Familie mit drei Kindern. Und dann kam dieser Satz: „Wenn es nach mir gegangen wäre, dann hätte das dritte Kind nicht sein müssen.“ Ich weiß es bis heute, weil es mich leicht fassungslos zurückließ. Ein paar Gläser Wein später waren wir auch im Thema weiter: „Könnte ich noch mal von vorne anfangen, dann würde ich im nächsten Leben keine Kinder bekommen.“ Das Paradoxe daran war, er zeigte mir Kinderbilder, am Flughafen kauften wir beide Geschenke für die lieben Kleinen daheim. Er liebt seine Kinder, aber könnte er im Leben noch mal anfangen, dann hätte er keine. Ich weiß auch noch, was ich ihm damals geantwortet habe: Ich hoffe, dass deine Kinder nie davon erfahren, wie du denkst. #regrettingfatherhood wäre wohl der passende #Hashtag für diese Geschichte.
Alljährlich füllen Mütter die sozialen Netzwerke mit der Diskussion über die Frage, ob man Mutterschaft bereuen kann und darf. Unter dem Hashtag #regrettingmotherhood wird heftig gestritten, ob es „Rabenmütter“ seien, ob es repräsentativ sei, gar kein weitverbreitetes Phänomen oder ein aufregender Tabubruch, so etwas offen auszusprechen. Wobei: Ganz so offen ist es ja nicht. Ausgelöst wurde die Diskussion erstmalig im Jahr 2015 durch die Studie einer israelischen Soziologin, die ganze 23 Mütter intensiv zum Thema befragt hat, und die Mütter wollten natürlich anonym bleiben.
23 Mütter und weltweit wird seither diskutiert, passt es doch so gut in die heutige Darstellung von Familie. Kinder, ist das anstrengend! Figur ruiniert, Nerven blank, Karriere im Eimer, Stress in der Beziehung und Geldbeutel leer. Dazu ein Sammelsurium verpasster Chancen, nicht gelebter Erlebnisse, nicht gekaufter Dinge und schlafloser Nächte. Wie viel einfacher wäre doch das Leben ohne Kinder. Weniger Verantwortung, weniger Stress, mehr Geld. Immer wieder ergötzt uns die Wissenschaft mit „neuen Erkenntnissen aus der Glücksforschung“ und logisch: Ohne Kinder ist man glücklicher, so das erwartbare Ergebnis.
Der Deckel auf dem feministischen Topf
Zwar stellt sich die Frage, ob dieselben befragten Eltern ohne ihre Kinder ein wirklich glücklicheres Leben geführt hätten, aber diese Forschung lässt sich ja nicht durchführen, es sei denn, wir etablieren endlich die Reinkarnation. Es bleiben der Traum und die Verklärung über ein Leben, das man nicht hat. „Das Leben, wie es sein sollte“, der einstige Werbeslogan von Coca-Cola, bringt es auf den Punkt, die dazugehörigen Werbespots zeigen Situationen, in denen wir gerne Helden wären, cool mit der richtigen Reaktion und der richtigen Entscheidung im richtigen Moment. Aber wir bleiben sitzen und träumen weiter von dem Leben, das nicht so ist wie unser armseliges Dasein. Selbstmitleid in Perfektion.
Und es passt auch scheinbar so gut zu dem, was uns die Emanzipationsbewegung als Frauen schon immer warnend zurief. Haben wir es euch nicht hundert Mal gesagt, Mädchen? Dieses Kinderkriegen ist ein Problem, gut, dass ihr heute abtreiben dürft. Dann muss man ihn nicht hinnehmen, diesen Klotz am Bein, diesen Ausbremser bei der Selbstverwirklichung oder wie es die französische Feministin Elisabeth Badinter in ihrem Buch „Das Problem: Die Frau und die Mutter“ gar nannte, den „Parasiten an der Brust der Mutter“, alternativ den „Kollaborateur des Mannes bei der Festigung des Patriarchats“. Ha! Haben wir doch schon immer gewusst, nichts als Mühe und Ärger machen die Blagen. Und dann stürzen sie uns auch noch ins Unglück. Die Autorin der zitierten Studie, Orna Donath, scheint aus der gleichen Schule zu stammen: „Es ist die Gesellschaft, die entscheidet, dass Frauen Kinder wollen, wollen sollen – oder irgendwann, früher oder später in ihrem Leben, wollen werden“, erklärt sie ihre bahnbrechenden Erkenntnisse.
An anderer Stelle behauptet sie, das Glück der Mutterschaft sei nur ein „kulturelles und historisches Konstrukt“. Da passt der Deckel wieder auf den feministischen Topf. Ein Revival des angeblichen „Muttermythos“, der nur dazu erfunden wurde, uns Frauen einzureden, wir hätten eine besondere Verantwortung für die Kinder, um uns final an den Herd zu ketten. Ja, diese böse, patriarchale Gesellschaft redet Frauen bis heute ein, dass sie Mütter werden müssen, alles nur ein Trick der Männer.
Bei den 23 befragten Müttern schwanken die Gründe für das Bedauern ihres Lebens als Mutter irgendwo zwischen dem Verlust der Kontrolle über ihr Leben und ihre Selbstbestimmung, aber auch über die eigenen Beziehungen. Berufliche und private Pläne könnten nicht mehr realisiert werden und auch nicht die eigenen sexuellen Bedürfnisse. Die ständige Verantwortung, die man zu tragen hat, ermüdet und bindet Kräfte. Man ist erschöpft und die Nerven liegen blank. Nun sollte es sich inzwischen als Binsenweisheit herumgesprochen haben, dass sich das Leben verändert, wenn man Kinder bekommt. Sind das nicht alles Dinge, die man heute schon vorher weiß? Die befragten Mütter sind nicht gegen ihren Willen schwanger geworden, manche haben sogar drei Kinder. Und sie sagen auch noch, sie liebten sie. Die Aufzählung der Gründe mutet an wie das Klagen von Menschen, die zwar gerne Kinder haben wollen, es soll sich aber möglichst nichts ändern. Die Wohnung soll aussehen wie vorher, der Job funktionieren wie vorher, die Paarbeziehung soll sein, als hätte man noch keine Kinder, und der nächtliche Schlaf ist heilig. Was werden wir als Nächstes öffentlich bedauern in unserem Leben und mit Hashtags versehen im Netz ausdiskutieren, während wir in Selbstmitleid baden? #regrettingfatherhood wäre allein aus Gleichstellungsgründen als Nächstes dran.
Das Leben, wie es sein könnte
Ebenfalls beliebt sicher #regrettingmarriage. Wobei sich das ja einfacher lösen lässt. Denn während wir den Partner einfach stehen lassen können, wenn er nicht mehr zu uns oder unserem Leben passt, ist es sozial doch noch ziemlich geächtet zu sagen: „Schätzchen, die Mami gibt dich wieder zurück“. An wen auch? Von dahin ist es nicht mehr weit zu #regrettingmyage, denn das Altern erscheint zunehmend ein Problem, oder auch zu #regrettingmyweight, denn die Fit-for-Fun-Gesellschaft fordert ihren Tribut. Warum also nicht gleich #regrettingmywholelife.
„One day baby we’ll be old, oh baby we’ll be old and think about the stories that we could have told“ – mit einem Poetry Slam zu diesen Liedzeilen aus dem „Reckoning Song“ von Asaf Avidan & The Mojos schaffte es 2013 die Slammerin Julia Engelmann zu unerwarteter Berühmtheit mit einem Auftritt im Hörsaal der Uni Bielefeld. Der YouTube-Film dazu hat zwischenzeitlich über 14 Millionen Aufrufe:
Beschrieb sie doch sehr eindrücklich die Zerrissenheit einer Generation, die eigentlich alles hat, aber nie zufrieden ist, sich nie festlegt – aus Angst, sonst eine noch viel besser optimierte Version des Lebens, des Partners und des Glücks zu verpassen. Ja, irgendwann werden wir alle alt sein, und entweder, wie in diesem Lied, über all die Geschichten nachdenken, die wir dann erzählen könnten, wenn wir denn im Laufe unseres Lebens den Hintern hochbekommen hätten, all diese Heldentaten zu tun, von denen wir später gern erzählen würden.
Und wir können dann bedauern, dass wir dieses oder jenes nicht gemacht haben, weil es ja nicht ging, und der Job im Weg war, der Partner oder das Kind und man ja leider nichts dafür kann, weil man ja nicht schuld dran ist, dass das Leben einem ständig im Weg ist. Oh ja, wir können dann darüber trauern, dass wir ja Helden hätten sein können, berühmt, reich und schön. Ja, wie bedauerlich, dass es nicht dazu kam. Von Woody Allen stammt das Zitat, das Einzige, was er in seinem Leben bedauere, sei, dass er nicht eine andere Person sei. Wie passend. Wenn wir ehrlich sind, kennen wir alle diese Erfahrung, diesen Reflex, das eigene Scheitern, die eigene Unzufriedenheit äußeren Einflüssen oder gar anderen Personen in die Schuhe schieben zu wollen. Weil es leichter erträglich ist, auf andere wütend zu sein als auf sich selbst. Oder wir können endlich anfangen zu leben.
Werdet endlich erwachsen
Nein, ich habe nicht wirklich Verständnis für diese #regrettingmotherhood-Debatte. Ich habe den eingangs zitierten #regrettingfather auch nicht verstanden. Werdet endlich erwachsen, möchte ich diesen Müttern und Vätern zurufen. Es ist unwürdig, das Unglück eures Lebens euren Kindern in die Schuhe zu schieben. Es ist ja auch sehr einfach, die Verantwortung für die eigene Wehleidigkeit im Kinderwagen abzuladen.
Ausgerechnet bei diesen Kindern, die euch ohne Bedingung und ohne Berechnung so lieben, wie ihr seid. Was für ein Geschenk. Ihr bekommt Liebe ohne Ehevertrag und ohne Konditionen und schmeißt es weg. Ich schrieb diesen Text am 16. Geburtstag meiner damals ältesten Tochter. Sie war nicht da, seit einem Jahr im Ausland, und mein Mutterherz blutete, weil mein Baby nicht zu Hause war. Es war kein Müttermythos, der mich leiden ließ, sondern die grenzenlose Liebe zu diesem Kind, das schon Flügel bekommen hatte und das Nest nicht mehr ständig brauchte. Es tat nicht weh, dass sie in meinem Leben war, sondern dass sie es gerade nicht mehr war. #regrettingnothing ist der einzige #Hashtag, den wir brauchen.
Weil das Leben zu kurz ist, um sich mit Selbstmitleid aufzuhalten. Weil die Tiefen in unserem Leben uns die Höhen erst ermöglichen. Weil wir heute nicht wären, wer wir sind, wenn es nicht auch Trauer, Enttäuschung, Anstrengung und Verzweiflung gäbe. Manche Erfahrungen und Erlebnisse im Leben hätte ich mir sicher gerne erspart, aber nein, ich bereue ganz sicher nicht meine fantastischen vier.
Guter Text! Uns alle gibt es nur deshalb, weil hinter uns eine ununterbrochene Kette von Nachkommen stehen. Und früher meist in viel schlechteren Zeiten als heute.