In der Row Zero zur Erlösung
Im Juli dieses Jahres führte mich mein Weg das erste Mal nach Israel und angesichts dessen, was wir heute an Bildern aus dem Land täglich sehen, bin ich dankbar, diese Gelegenheit bekommen zu haben, vor diesem Krieg, von dem keiner von uns voraussagen kann, wo und wann er enden wird. Meine unmittelbar danach notierten Reiseerinnerungen haben ihre “Unschuld” verloren. Der Text liegt in voller Länge seit Langem zur Veröffentlichung herum und stellte mich vor das Dilemma: Soll ich ihn nun umschreiben, aktualisieren, wegwerfen? Kann man das noch so stehen lassen angesichts des Grauens, das sich in der Zwischenzeit dort ereignet hat?
Ich war nicht nur in Jerusalem, sondern auch in der Wüste Negev, sehr nahe an der Grenze zum Gazastreifen in der sogenannten 15-Sekunden-Zone in einer Schule zu Besuch nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt von jenem Kibbuz, dessen Bewohner abgeschlachtet wurden. Einige der Kinder, die diese Schule besuchten, sind heute wahrscheinlich tot. Es ist surreal und doch leider sehr real.
Ich habe mich entschieden den Text doch zu veröffentlichen und zwar unverändert, meinen Versuch, die Gefühlslage und den Alltag dieses Landes zu erfassen, das sich in einem Dauerkrisenmodus einen unbedingten Überlebenswillen und erstaunlich viel “Normalität” und Lebensfreude im Alltag bewahrt hatte. Mit der Normalität ist es seit dem 7. Oktober 2023 sicher vorbei.
Gerade streiten alle um die Frage, wem der Landstrich des heutigen Israel nun eigentlich gehöre. Ich möchte an dieser Stelle gar nicht über Besitzansprüche reden, das Existenzrecht des Staates Israel steht für mich persönlich nicht zur Debatte, sondern nur vorweg ein paar Worte dazu verlieren, wo diese Region wirtschaftlich und gesellschaftlich stand, bevor immer mehr Juden im 20. Jahrhundert in das Land ihrer Väter zurückkehrten und begonnen haben, es als ihr Land aufzubauen. Und da fand ich eine anschauliche Passage bei dem Schriftsteller Mark Twain. Der Kontrast zu heute könnte nicht größer sein. Sein Reisetagebuch The Innocents Abroad zu Deutsch „Die Arglosen im Ausland“ erschien im Jahr 1867 und gehörte zu den meistgelesenen Reisebeschreibungen seiner Zeit. Über seine Reise ins »Heilige Land« im Jahr 1867 schrieb Twain:
”Es ist ein hoffnungsloses, ödes, verzweifeltes Land. Palästina sitzt in Sack und Asche. Über ihm brütet der Bann eines Fluches, der seine Felder hat verdorren lassen und seine Tatkraft gefesselt hat. (… )Der einzige Unterschied zwischen den Straßen und dem umgebenden Land ist vielleicht der, dass auf den Straßen etwas mehr Steine liegen. Das berühmte Jerusalem selbst, der erhabenste Name in der Geschichte, hat all seine alte Größe verloren und ist ein Bettlerdorf geworden. (…) Wir durchquerten einige Meilen lang ein trostloses Gebiet, dessen Boden recht fruchtbar, aber gänzlich dem Unkraut überlassen ist – eine schweigende, traurige Weite, in der wir nur drei Menschen trafen. (…) Palästina ist verlassen und hässlich.«
Diesem einstmals öden Landstrich haben die Juden seit dem Besuch von Mark Twain jedenfalls einen lebenswerten Ort, pulsierende Städte und fruchtbare Felder abgetrotzt, sie haben dem Meer Trinkwasser abgerungen und der orientalischen Welt die einzige Demokratie weit und breit. Bis vor zwei Wochen versorgten sie sogar jene mit Wasser und Strom, die ihnen tagtäglich an die Gurgel wollen. Und das lasse ich zum Nachdenken hier jetzt einfach mal so stehen.
Im Folgenden meine Reiserinnerungen nach Israel im Juli 2023:
Morgenerwachen in Jerusalem. Über dem Dach meiner Herberge weht eine Vatikanfahne und wie jeden Morgen um vier Uhr schreit ein Muezzin von der anderen Straßenseite mit seinem Megaphon durch mein offenes Fenster. Unten an der Straße stehen junge Frauen und Männer der israelischen Armee Wache. Gegen fünf Uhr zieht ein leise singender Pilgerchor vorbei Richtung Grabeskirche, danach in Gegenrichtung eine laut lamentierende Gruppe arabischer Jugendlicher, die rüde von einem Dutzend Polizisten Richtung Damaskustor hinausbefördert werden. Ein halbwüchsiger Teenager brüllt dramatisch zum noch schlafenden Publikum in die leere Gasse „This is a racist state!“ Die aufgehende Sonne erleuchtet in sanftem Licht die Dächer der „Goldenen Stadt“.
Religion, soweit das Auge reicht
Wahrscheinlich nirgendwo auf der Welt tragen so viele Religionen auf so engem Raum so gut sichtbar ihren Glauben auf der Straße. Jüdische Frauen mit kunstvollen, bunten Tüchertürmen über den Haaren. Orthodoxe Juden mit Schläfenlocken, Hüten und gewagten Pelzmonstern auf dem Kopf, die mich nicht anblicken, sondern im Vorbeilaufen mit der Hand gar die Augen vor dem Anblick meines Ausschnittes beschützen. Nun gut, wenigstens beharren sie nicht darauf, dass ich mich verhülle. Arabische Frauen in allen Verschleierungsgraden, muslimische Männer in langen Gewändern. Ein katholischer Priester in kurzem Hemd, pilgernde Christen in allen Hautfarben.
Überall sieht man Katzen und Kinder. Die Geburtenrate scheint bei allen Lebewesen gleich hoch, eine schnell wachsende Gesellschaft wie in einem Geburtenmarathon im Wettlauf um jeden Quadratmeter Land. Überlebenswille und Lebensfreude spiegeln sich Samstagabend in der Menschenmenge auf dem großen Platz vor der Klagemauer. Sorgfältig gekleidete Teenager, soweit das Auge reicht. Ist das hier der jüdische Heiratsmarkt?
Religionsfreiheit ist in Jerusalem keine Frage gelebter Toleranz, sondern geladener Maschinengewehre. Und doch ist es ein Wunder, wie man hier gleichzeitig das Gefühl von Sicherheit, Ruhe und Gastfreundschaft vorfindet.
Apartheitsstaat! Kriegstreiber! Landbesetzer!
Es hatte mich ein bisschen beschämt vor der Reise ins Heilige Land, wie wenig ich über Israel weiß. Aus der Schule erinnere ich nichts über den Nahostkonflikt, so als sei der Geschichtsunterricht nach dem Holocaust stehen geblieben. Alle beschwören das „Nie wieder“ auf deutschem Boden, keiner redet über das „Wie weiter?“ der Juden. Dafür solidarische Palästinensertücher auf den Schulhöfen, damals wie heute. Man gefällt sich konstant in der Rolle des Minderheitenbeschützers, auch wenn die vermeintliche Opfergruppe auf deutschen Straßen „Juden ins Meer“ skandiert.
Man kann Israel nicht besuchen, ohne in Deutschland mit Vorurteilen und Kontroversen konfrontiert zu werden. Ein ganzes Land vereint im Kampf gegen „Rechts“ gegen „Nazis“ und das „Vergessen“ und doch so breitwillig bereit, auf differenzierte Sichtweisen zu verzichten, wenn es um jenen Staat geht, den das jüdische Volk vor allem wegen den Erfahrungen mit den Deutschen um jeden Preis verteidigen.
Ja aber die Siedlungspolitik! Apartheitsstaat! Kriegstreiber! Landbesetzer! Waren die alle schon mal hier?
15 Sekunden bis in den Bunker
Es gäbe kein „passiv-aggressiv“ in Israel, nur ein „aggressiv-aggressiv“, erklärt unser Reiseleiter Aaaron auf dem Weg in die Wüste Negev, ein kalifornischer Jude, ausgewandert ins Land seiner Glaubensväter. Besuch in der 15-Sekunden-Zone im Dreieck zwischen Ägyptischer Grenze und Gazastreifen. Wir besuchen die zentrale Schule für die Kinder dieser Gegend. „Only 15 seconds to grab your kids and make it to the safe room“ erklärt die Leiterin der Ganztagsbetreuung. Die Eltern dieser Kinder könnten tagsüber in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen, weil die Kinder hier sicher seien.
Jede Bushaltestelle ist hier auch gleichzeitig ein Schutzbunker. Die ganze Schule ist raketensicher, die zusätzlichen Schutzräume im Haus als Wissenschaftsräume ausgebaut. Der Pausenraum hat eine Spielkonsolen-Auswahl wie aus dem feuchten Traum eines 15-jährigen Teenagers. Es gibt ein Planetarium und High-Tech-Teleskope dank einer Kooperation mit der NASA. Wer einen Asteroiden findet darf ihm einen Namen geben. Wenn man schon hier ist, kann man auch lernen, mit Legos Fahrzeuge bauen, forschen. Einer der Schutzräume ist völlig interaktiv man kann jede Landschaft auf Boden und Wände bringen und sie nutzen ihn auch für die Traumatherapie jener Kinder, die nicht so gut zurechtkommen mit einem Leben in dauerndem Alarmzustand. In der großen Aula eine riesige Wand aus Moos, Teil eines Projektes, wie man ohne Erde und vertikal in der Wüste Pflanzen wässert und großzieht.
„Sie sollen sich nicht als Opfer fühlen“, sagt die Leiterin, sollen Lösungen, Handlungsfähigkeit und „out of the box thinking“ lernen. Dies Volk will nie wieder wehrlos sein. Der Staat investiert in seine Kinder. Bildet sie aus, in einem Land zu überleben, das von Feinden umzingelt ist. Noch vor wenigen Jahren herrschte extremer Wassermangel im Wüstenstaat Israel, heute exportieren sie sogar Wasser nach Jordanien. Überlebenswille. Lösungsorientiert. Am Ausgang die Galerie der Spender. Jeder Stein, der in diesem Land übereinandergestapelt wird, scheint hier den Namen eines Spenders zu tragen. Jüdische Familien weltweit, die das Überleben ihrer Familie mit Stiftungen ehren.
Patronen für den Frieden
Wir fahren weiter zu einem alten Kibbuz. 1945 haben dort 110 Juden acht Meter unter der Erde über zwei Millionen Patronengeschosse in einer großangelegten Geheimaktion von Hand produziert, während man über der Erde auf Sichtweite der britischen Armee residierte und in der Wäscherei über der Munitionsfabrik zur Tarnung gar die Uniformen der Briten wusch. Eine Geschichte die nach Verfilmung schreit. Nur einmal hatte einst eine der unwissenden Arbeiterinnen im Kibbuz die geheime Türe zur Wendeltreppe unter der Wäscherei entdeckt. Man hat sich entschieden, sie einzuweihen, statt sie zu erschießen, was als Option offen diskutiert wurde, erklärt Shmuel, der uns in das Kellerverließ hinabführt. Ohne diese Munition wäre man nach Abzug der Briten 1947 erledigt gewesen.
Alles war durchdacht. Wann jene 100, die angeblich auf Feldern weit außerhalb arbeiten, unterirdisch verschwinden und wann sie zu den Mahlzeiten schmutzig „vom Feld“ und braungebrannt, nicht von der brütenden Sonne, sondern vom unterirdischen Solarium, wieder auftauchen. Es habe Ehen gegeben im Kibbuz, wo nur einer von Beiden Teil des Geheimplans gewesen sei und der andere nichts wusste. Nichts riskieren. Alle, die mitgemacht haben, sind einst blind gefolgt für eine Sache, an die sie glaubten. Sie waren vorbereitet auf den erwarteten Versuch ihrer Nachbarländer, sie ins Meer zurückzuschieben. Es ist ihr „War of Independence“. Sie verlassen sich nicht auf Fremde, jeder muss hier seine Verantwortung tragen. Die israelische Jugend rettet ihr Volk, die deutsche Jugend das Klima.
„Ich gebe ihnen ein Denkmal und einen Namen“
Yad Vashem. Ich verliere mich in den Zeugnissen der Videowände in der Gedenkstätte für die Toten und Überlebenden des Holocaust. Die Zeugenberichte der Überlebenden sind das Erschütterndste. Erwachsene alte Männer in Tränen über jene, denen sie nicht helfen konnten, ebenfalls zu überleben. Kinder, die bei den Erschießungen im Massengrab unter den Leichenbergen zufällig überlebten. Tagebucheinträge und Notizen aus dem Warschauer Ghetto, geschrieben und versteckt von jenen, die begriffen hatten, dass sie das Grauen beschreiben und aufzeichnen müssen, weil wahrscheinlich niemand überleben wird. Schreiben gegen das Vergessen. Beweissammlung für die Nachwelt.
Zeugnisse unendlichen Mutes versammeln sich in den Geschichten der „Gerechten unter den Völker“, jenen nichtjüdischen Helfern, die bewiesen, dass und wieviel jeder hätte tun können, statt wegzusehen. Wie viele der aktuellen „Nie wieder“-Rufer stünden heute wohl wo, wenn das „Nie wieder“ vielleicht das eigene Leben kostet und nicht nur Gratismut an staatlich organisierten Gedenktagen? Ein Überlebender in Videodauerschleife, der erschüttert erzählt, wie er in den Niederlanden aus der Schule heraus deportiert wurde. Vorbei durch die Stadt zu den Waggons am Bahnhof. Vorbei an den Nachbarn, die er bis zum selben Morgen noch für seine Freunde gehalten hatte. „An diesem Tag brach mein Glaube an die Menschen zusammen“.
Zahlreiche israelische Soldatengruppen ziehen mit mir durch die beklemmenden Betonwände von Yad Vashem. Man erzählte uns, alle Soldaten werden vor ihrer Vereidigung hierhergebracht, damit sie wissen, wofür und warum sie ihr Land und ihr Volk verteidigen, auf dass es niemals ausgetilgt werde, wie es Jesaja in der Bibel prophezeite und damit den Namen dieses Ortes stiftete:
„Ihnen errichte ich in meinem Haus und in meinen Mauern ein Denkmal, ich gebe ihnen ein Denkmal und einen Namen (Yad Vashem) ... der niemals ausgetilgt werden soll.“ (Jesaja 56; 5)
Fliegende Teppichhändler
Jeder der unzähligen Händler, die einen in ihren Laden locken wollen, kann ein paar Brocken Deutsch. Der Keramikhändler hat einen Cousin in Tübingen, „Tschüßle“ sagt er lachend zum Abschied. Preise sind Verhandlungssache, wer wie ein Opfer aussieht, wird eines. Ich lasse mir aus Versehen von einem Teenager 40 Euro für 4 Bier aus der Tasche ziehen, aber er war jedenfalls ganz großer Fan von Borussia Dortmund. Lehrgeld. Bei Antiquitätenhändel Baidun sind wir damit gut gerüstet, der Versuchung zu widerstehen, sich in seinen berühmten Laden hineinziehen zu lassen. Stolz zeigt er uns also auf der engen Gasse abgegriffene Exemplare des National Geographic und welcher deutschen A- und B- Promi sich bereit in sein Gästebuch eingetragen hat. Wir müssen alles lesen. Laut vorlesen. So viel Ehre. Ich bin sicher, er hat auch fliegende Teppiche und Aladdins Lampe oder wenigstens eine handelsübliche Pyramide in seinem Keller oder weiß, wo er sie besorgen kann. Die nächsten Tage gehen wir immer einen Umweg, um nicht an seinem Laden vorbeizukommen, denn er kann sehr hartnäckig sein. Das Wasser im Laden gegenüber unserer Herberge im Österreichischen Hospiz kostet jeden Tag einen anderen Phantasiepreis.
Security, security and more security.
„Everything is about three things in Israel: Security, security and more security“ hatte schon Reiseleiter Aaaron am ersten Tag erklärt. Was es ganz konkret bedeutet, zeigt uns heute Kobi auf einer „Sicherheitstour“ rund um Jerusalem. Auf seiner Visitenkarte steht „Sicherheitsexperte“. Er ist Reservist, hat schon zwei Kriege überlebt, Juden aus dem Libanon und aus Äthiopien in Rettungsaktionen herausgeholt. Den Selbstmordattentäter, der sich vor seiner Motorhaube in die Luft sprengte an einem Checkpoint hat er nur überlebt, weil sein Fahrzeug gepanzert war, die Kameraden im Auto hinter ihm hatten weniger Glück. Als ich hinter ihm stehe, sehe ich den Revolver, den er standardmäßig zu Jeans und T-Shirt unter dem Gürtel trägt. Ein Soldat mit Maschinengewehr folgt ihm auf Schritt und Tritt.
Wir stehen einen Kilometer Luftlinie entfernt auf dem Hügel gegenüber von Bethlehem mit Blick auf die acht Meter hohe Mauer, die rund um Jerusalem einen Schutzwall zum Westjordanland zieht. Früher habe man Raketenbeschuss aus Bethlehem bis zu den Wohnhäusern hinter uns gehabt, heute sei das unterbunden. Mein Bethlehem hatte Hirten und Engel und Weisen aus dem Morgenland. Ernüchterung. Ich sehe keine Krippe und keinen Friedensfürsten weit und breit.
Die Mauer muss nicht weg
Danach fahren wir in den Sicherheitsbereich direkt an die Mauer. Betonwände türmen sich neben dem Bus auf. Sicherheitstore, Kameras in alle Richtungen, denn hier ist auch ein Übergang für jene 70.000 Bewohner des Westjordanlandes, die täglich zur Arbeit nach Jerusalem und wieder zurück passieren. Wir stehen direkt auf der Kuppel über Rachels Grab, eine Pilgerstätte für Juden und Christen. Während 8 Meter tiefer unten gerade orthodoxe Juden ihre Kinderwägen in die Grabstätte schieben, hat oben vor uns ein Grenzposten die Waffen und Gummigeschosse auf einem Tisch ausgebreitet, die man hier standardmäßig mit sich führt. Das durchschnittliche Polizeiauto an der Straße ist wie ein kleiner Panzer ausgestattet. Die Mauer habe ihre Berechtigung selbst bewiesen, sagt Kobi, „Seit es sie gibt, hatten wir keinen einzigen Selbstmordattentäter mehr in der Stadt“. Security, security and more security. Die Leichtigkeit meines Sommerabends in der Stadt wird hier verteidigt.
Im Hauptquartier ist dann Fotoverbot. Wir treffen die jungen Frauen, die alle vor zig Bildschirmen täglich 24 Stunden lang jeden Zentimeter der Mauer im Auge behalten, Verdächtige frühzeitig erfassen und über Funk an die Außenposten melden. „Warum arbeiten hier nur Frauen“ will ich von ihm wissen. „Weil sie das einfach besser können als die Männer“ lacht der harte Knochen. Israel braucht keine Frauenquote, sie nehmen einfach überall die Besseren.
"I don't want to share my country!"
Letzter Falafel vor der Grenze. Taxifahrer Fadi auf dem Weg zum Flughafen gibt uns das totale Kontrastprogramm zu den vergangenen Tagen: "I don't want to share my country!" sagt er. Seine Familie lebe bereits seit 120 Jahren in Jerusalem, man merkt es am selbstbewussten Fahrstil durch die engen Gassen. Bei der Ausfahrt am Löwentor zeigt er uns den Friedhof links, dort werde man ihn irgendwann beerdigen. Er hat schon als Sicherheitsmann für die Palästinenser gearbeitet, ist alleinerziehenden Vater zweier Söhne, hat beeindruckende Oberarme und findet, ein Mann, der seinen Lebensunterhalt nicht selbst verdient, sei ein Waschlappen.
Dazwischen schimpft er auf die orthodoxen Juden. "Sie machen nur drei Dinge, den ganzen Tag: Bus fahren, Shoppen und Kinder zeugen". Und natürlich das Land besetzen.
Ich werfe ein, dass sie wahrscheinlich auch viel beten. Na gut, aber ob wir unser Land einfach jemandem geben würden, fragt Fadi? Ich verzichte darauf, ihm davon zu berichten, dass wir es gerade jedem geben, der vorbeischaut und wir auch prominente Palästinenser im Land haben, die stolz darauf sind ein Dutzend Kinder ohne Deutschkenntnisse auf Staatskosten großgezogen zu haben, wir wollen schließlich nicht auf der Autobahn 1 ausgesetzt werden, außerdem ist er unterhaltsam, wenn man ihn reden lässt.
Er will gerne einen Umweg fahren zum Flughafen, ob wir ein paar palästinensische Dörfer sehen wollen? Gott sei Dank nimmt ein LKW, der uns die Abbiegespur dorthin blockiert, die Entscheidung ab. Schade aber auch. Er selbst will übrigens auch nicht im Westjordanland wohnen, plaudert er munter weiter, denn da würde nichts funktionieren und keiner wisse, wo eigentlich die Millionen aus dem Ausland versickern. Er, der selbst die Schule mit 14 verlassen habe, lebt lieber im besetzten Land, denn hier schickt er seine Kinder auf eine Privatschule. Später dürfen diese Kinder hier kostenlos studieren. Ja, immer diese furchtbaren Besetzer. Diese Stadt ist voller Widersprüche.
In der Row Zero zur Erlösung
Am Morgen noch ein letzter Spaziergang zur Klagemauer und zum jüdischen Viertel. Alles ist hier heilig, auch der Kaffee und die Bagels. Der McDonalds ist koscher. Gestern standen wir bereits um 6 Uhr morgens in der Grabeskirche. Die Stadt ist leer und samtig warm. Wir ergattern eine katholische Messe mit dem Patriarchen persönlich direkt in der kleinen Vorkammer am Grab Jesu und drängen uns mit einer Gruppe Inder in den winzigen Raum. Die kleine Inderin neben mir hat vergessen ihr Handy stumm zu schalten. Der Blick des Patriarchen lässt einen auf noch schnellere Auferstehung hoffen.
Danach geht es auf den Ölberg gegenüber der Stadt, zu Fuß wieder bergab durch die brütende Hitze. Rast im orthodoxen Kloster auf halber Strecke und dann zu den uralten Olivenbäumen im Garten Gethsemaneh. Ein Schild warnt am Eingang, dass hier Waffen nicht erlaubt seien. Kein Wunder, hier hat schon mal jemand sein Ohr abgehauen bekommen, das wollen wir nicht wiederholen!
Auf dem Weg in die Stadt vorbei an jüdischen, christlichen und muslimischen Gräbern. Alle warten hier gemeinsam vor dem zugemauerten Goldenen Tor, dass der Herr wiederkommt, es öffnet und sie dann die Ersten sind in der Row Zero zur Erlösung.
Wie bekomme ich die neuen Texte zukünftig automatisch?
Ganz einfach: Kostenlos mit Mailadresse abonnieren über den Button und Sie bekommen es taufrisch als Mail:
Sie lesen das gerne? - dann unterstützen Sie meine Arbeit
Ihre Volle Kelle bekommen Sie hier auf Substack kostenlos. Ich freue mich aber, wenn Sie meine Arbeit, die viel mehr ist als Schreiben, unterstützen. Recherche, Analyse, Netzwerkarbeit und politische Lobbyarbeit gegen all den Wahnsinn kostet Zeit. Diese Arbeit ist nur mit Unterstützung möglich, dafür braucht es auch Sie. Gerne hier ein paar Optionen:
Unterstützen Sie mich direkt via Paypal hier unter dem Link.
Wenn Ihnen die “Volle Kelle” gefällt, bitte teilen Sie diesen Text hier mit dem Button, damit er auch viele weitere Leser und Abonnenten findet:
Sie lesen schon regelmäßig und wollen auch freiwillig ein bezahltes Abo abschließen, dann können Sie gerne unter dem folgenden Button aufstocken. Danke!
Wer seine tägliche Dosis Kelle haben will, sollte mir natürlich dringend hier bei Twitter folgen. Vorsicht - Ironie und Sarkasmus inklusive. Sie finden mich aber auch bei Facebook und bei Instagram.